Die Richtlinie (EU) 2019/882 [1] führt neue Barrierefreiheitsanforderungen für Produkte und Dienstleistungen ein. Diese müssen – mit wenigen Ausnahmen – ab dem 28. Juni dieses Jahres umgesetzt werden. Da es sich bei der Rechtsvorschrift um eine Richtlinie handelt, sind die Anforderungen von allen Mitgliedern der EU in nationales Recht umgesetzt worden. In Deutschland sind die Anforderungen im Barrierefreiheitsstärkungsgesetz (BFSG) verankert. Diese richten sich neben Dienstleistungen auch direkt an das Design von Produkten. Artikel 2, Absatz 1 listet die Produktkategorien, welche die Barrierefreiheitsanforderungen aus Anhang I erfüllen müssen.
Darunter findet man a) „Hardwaresysteme und […] bestimmte Betriebssysteme für Universalrechner für Verbraucher“, womit Laptops, Tablets und Betriebssysteme wie Windows oder Mac OS X gemeint sind. Außerdem werden unter e) „E-Book-Lesegeräte“ aufgezählt. Hier muss nicht nur die Hardware barrierefrei sein, sondern auch die Software zur Bedienung muss barrierefreie Zugriffsmöglichkeiten bieten. Darunter fällt u.a. die Anforderung, dass Informationen zur Nutzung des Geräts über mehr als einen sensorischen Kanal zur Verfügung gestellt werden müssen.
Beispiele für mehrere sensorische Kanäle wären ein visueller Kanal, der die Darstellung auf dem Bildschirm beinhalten, während ein auditiver Kanal die Informationen über eine Sprachausgabe wiedergibt.
Während die Produktkategorien aus Artikel 2, Absatz 1 a) und e) recht eindeutig formuliert sind, ist die Formulierung von Artikel 2, Absatz 1 c) und d) eher vage gehalten:
c) „Verbraucherendgeräte mit interaktivem Leistungsumfang, die für elektronische Kommunikationsdienste verwendet werden“
d) „Verbraucherendgeräte mit interaktivem Leistungsumfang, die für den Zugang zu audiovisuellen Mediendiensten verwendet werden“
In Artikel 3, Nr. 7 wird nur der Begriff aus d) definiert, und zwar als „Geräte, deren Hauptzweck es ist, Zugang zu audiovisuellen Mediendiensten zu bieten“. Darunter fallen z.B. Smart-TVs oder Geräte wie der Fire TV Stick von Amazon.
Aber welche Geräte fallen unter die Definition aus c)?
Zwar sind „elektronische Kommunikationsdienste“ – z.B. Telefonie und Internet – in der Richtlinie (EU) 2018/1972 definiert, jedoch bleibt unklar, was unter der Begrifflichkeit „Verbraucherendgeräte mit interaktivem Leistungsumfang“ zu verstehen ist.
Klar ist, dass Telefone und Smartphones eindeutig unter diese Rubrik fallen. Die Frage ist, ob Geräte wie Headsets oder Web-Kameras ebenfalls gemeint sind. Der erste Impuls, die Frage mit „nein“ zu beantworten, gerät ins Wanken, wenn wir uns den Beweggrund (30) der Richtlinie ansehen:
„Diese Richtlinie sollte sich ferner auf Verbraucherendgeräte mit interaktivem Leistungsumfang, bei denen vorhersehbar ist, dass sie vorrangig für den Zugang zu elektronischen Kommunikationsdiensten genutzt werden, erstrecken. Diese […] sollten […] auch Geräte umfassen, die als Teil der Konfiguration für den Zugang zu elektronischen Kommunikationsdiensten genutzt werden, wie zum Beispiel Router oder Modems.“ Wenn also ein Router in den Geltungsbereich von Artikel 2, Absatz 1 c) fällt, warum dann nicht auch Headsets? Für einen Standrechner sind Monitor, Headset, Tastatur und Maus unverzichtbar, um den Zugang zu elektronischen Kommunikationsdiensten zu gewährleisten.
Zweck der Richtlinie ist es laut Artikel 1, dass „bedingte Hindernisse für den freien Verkehr von Produkten und Dienstleistungen […] beseitigt werden bzw. die Errichtung derartiger Hindernisse verhindert wird.“ Nach dem BFSG ist der Zweck des Gesetzes „[…] die Barrierefreiheit von Produkten und Dienstleistungen nach Maßgabe der folgenden Vorschriften zu gewährleisten. Dadurch wird für Menschen mit Behinderungen ihr Recht auf Teilhabe am Leben in der Gesellschaft gestärkt […].“ Es stellt sich also die Frage, ob Headsets, Bluetooth-Lautsprecher und IoT-Geräte aufbauend auf diesem Zweck auch in den Anwendungsbereich dieser Richtlinie fallen.
Selbst wenn die Bedienung von Bluetooth-Headsets, Web-Kameras oder Tastaturen bereits barrierefrei gestaltet ist und die Anforderungen aus Anhang I, Abschnitt I erfüllt sind, so bleiben die Anforderungen aus Anhang I, Abschnitt II an die Verpackung und Anleitung des Produkts.
Darunter fällt, dass bereits „die Produktverpackung mit den entsprechenden Informationen […] barrierefrei“ sein muss. Bedienungsanleitungen solcher Produkte sollen ebenfalls über mehr als einen sensorischen Kanal zugänglich sein.
Der offizielle Abschlussbericht der EU über die „Einführung in die europäische Gesetzgebung zur Barrierefreiheit“ [2] besagt, dass „digitale Technologien [im Mittelpunkt dieser Richtlinie]“ stehen. Unter den in dem Bericht beispielhaft gelisteten Produkten befinden sich keine Tastaturen, Mäuse oder Headsets, dafür finden wir u.a. Smartphones, Tablets, Computer, TV-Geräte und sogar E-Books, sowie Geld- und Ticketautomaten. Es kann also davon ausgegangen werden, dass Headsets, Web-Kameras und Tastaturen nicht das direkte Ziel dieser Richtlinie sind. Dieses ist laut dem Bericht, „Europa zu einer inklusiven Gesellschaft zu machen, indem der Zugang zu Produkten und Dienstleistungen für Menschen mit Behinderungen verbessert wird“.
Neben Produkten reguliert die Richtlinie auch den Zugang zu Dienstleistungen, darunter auch Artikel 2, Absatz (2) f) „Dienstleistungen im elektronischen Geschäftsverkehr“, womit z.B. Online-Shops gemeint sind. Damit sind vermutlich deutlich mehr Unternehmen betroffen, als man im Vorhinein angenommen hat.
Auch wenn die Formulierung aus Artikel 2 Absatz 1 c) Unsicherheiten aufkommen lassen kann, so sind die Anforderungen an die Barrierefreiheit klar und deutlich kommuniziert. So beinhaltet Anhang II zusätzlich eine Liste mit „Beispiele[n] für allgemeine Barrierefreiheitsanforderungen für alle Produkte, die gemäß Artikel 2, Absatz 1 unter diese Richtlinie fallen“, die Anhang I ergänzen.
Die Mitarbeiter der Globalnorm GmbH unterstützen Sie gern bei Fragen zum Thema Barrierefreiheit.
Schreiben Sie uns einfach eine E-Mail mit Ihrer Frage oder nutzen Sie dazu unser Kontaktformular.
Autorin
Anne Barsuhn
Junior Consultant Cybersecurity
BEGRIFFE UND ABKÜRZUNGEN
Die von der Europäischen Union im Dezember 2018 verabschiedete Richtlinie (EU) 2018/1972, über einen europäischen Kodex für die elektronische Kommunikation, legt gemeinsame EU-Regeln und -Ziele für die Regulierung der Telekommunikationsbranche fest und definiert, wie Anbieter von Netzwerken und/oder Diensten von nationalen Behörden reguliert werden können.