Hintergründe
Die Europäische Normung stellt im Zusammenhang mit der neuen Konzeption bzw. dem New Legislative Framework einen wichtigen Eckpfeiler dar. Eine harmonisierte Norm (hEN) ist gemäß Art. 2 Nr. 1 c) der Normungsverordnung (EU) 1025/2012 eine …
… Europäische Norm, die auf der Grundlage eines Auftrags der Kommission zur Durchführung von Harmonisierungsrechtsvorschriften der Union angenommen wurde.
Werden solche harmonisierten Normen im Amtsblatt der Europäischen Union veröffentlicht, lösen sie bei Anwendung die Vermutung der Konformität mit den von der jeweiligen harmonisieren Norm abgedeckten grundlegenden Anforderungen aus.
Mit den Auswirkungen des sogenannten James-Elliott-Urteils des EuGH vom 27. Oktober 2016 und des Global-Garden-Urteils des EuG vom 26. Januar 2017 hat sich die Veröffentlichungsprozedur der Fundstellen harmonisierter Normen im EU-Amtsblatt allerdings grundlegend verändert. Dies stellt die drei europäischen Normungsorganisationen CEN, CENELEC und ETSI vor entsprechende Herausforderungen.
Das James-Elliott-Urteil des EuGH spricht der Kommission eine weitergehende Verantwortung im Zusammenhang mit der Prüfung und Freigabe zur Veröffentlichung harmonisierter Normen im EU-Amtsblatt zu. Dementsprechend muss die Kommission gemäß Art. 10 (5) der Normungsverordnung (EU) 1025/2012 prüfen, ob eine hEN die von ihr abgedeckten wesentlichen Anforderungen im Kontext des Normenauftrags (Mandat) tatsächlich erfüllt. Dabei geht sie nun sehr formal vor:
- Erst wenn die harmonisierte Norm diese Anforderungen erfüllt, wird sie gemäß Art. 10 (6) im EU-Amtsblatt gelistet.
Da die Kommission fachlich nicht in der Lage ist, den ursprünglichen Normungsauftrag mit den Normungsergebnissen abzugleichen, hatte sie in der Vergangenheit eine internationale Unternehmensberatungsgesellschaft (Ernst & Young) dazu beauftragt, als sogenannter HAS-(Harmonised Standards)-Contractor zu fungieren. Sie wählt und beauftragt die HAS-Consultants (früher New Approach Consultants), gemäß Art. 10 Abs. 5 der Verordnung (EU) 1025/2012 die jeweilige Norm zu prüfen, ob diese tatsächlich die von ihr abgedeckten wesentlichen Anforderungen im Zusammenhang mit der referenzierten Harmonisierungsrechtsvorschrift erfüllt. Erst wenn dieses HAS-Assessment erfolgreich absolviert ist, werden die jeweiligen geprüften harmonisierten Normen im EU-Amtsblatt veröffentlicht.
Als weitere Konsequenz im Zusammenhang mit dem Global-Garden-Urteil muss die Kommission einer harmonisierten Norm eindeutig die Konformitätsvermutung zusprechen oder bei nachträglicher Beanstandung die Konformitätsvermutung für die jeweiligen Normabschnitte beschränken oder einer harmonisierten Norm eindeutig die Konformitätsvermutung entziehen.
Diese Umstände führen insgesamt dazu, dass bei der Prüfung einerseits zusätzlich Prüfungszeit für die HAS-Consultants anfällt und andererseits Normen beim HAS-Assessment durchfallen. Insofern dauert dieser Prozess entsprechend länger als vor dem James-Elliott-Urteil. Dies führte in letzter Zeit zu einer starken Verzögerung und somit zu einem Stau bei der Veröffentlichung der hEN – obwohl diese Normen bereits von CEN, CENELEC und ETSI ratifiziert und veröffentlicht wurden.
Weiterhin ist kritisch anzumerken, dass in den neuen Harmonisierungsrechtsvorschriften der jüngeren Vergangenheit (z.B. Medizinprodukteverordnung 2017/745 – MDR) oder neuen Vorhaben (z.B. Maschinenverordnung) sich die Kommission das Recht vorbehält, gemeinsame Spezifikationen zu veröffentlichen, so z.B. in der MDR 2017/745:
Gemeinsame Spezifikationen
Artikel 9
- Gibt es keine harmonisierten Normen oder sind die relevanten harmonisierten Normen nicht ausreichend oder muss Belangen der öffentlichen Gesundheit Rechnung getragen werden, so kann die Kommission – unbeschadet des Artikels 1 Absatz 2 und des Artikels 17 Absatz 5 und der in diesen Bestimmungen festgelegten Frist – nach Anhörung der Koordinierungsgruppe Medizinprodukte im Wege von Durchführungsrechtsakten gemeinsame Spezifikationen (im Folgenden „GS“) für die in Anhang I aufgeführten grundlegenden Sicherheits- und Leistungsanforderungen, die in den Anhängen II und III aufgeführte technische Dokumentation, die in Anhang XIV aufgeführte klinische Bewertung und die klinische Nachbeobachtung nach dem Inverkehrbringen oder die in Anhang XV aufgeführten Anforderungen an klinische Prüfungen annehmen. Diese Durchführungsrechtsakte werden gemäß dem in Artikel 114 Absatz 3 genannten Prüfverfahren erlassen.
Einen ähnlichen Passus enthält der Entwurf zur Maschinenverordnung. Unklar ist dabei, wer faktisch diese gemeinsamen Spezifikationen erarbeiten soll. Pikant bei dieser Vorschrift ist der erste Halbsatz in der obigen Vorschrift. Dass es bis zum heutigen Tage nur sehr wenige harmonisierte Normen unter der MDR im EU-Amtsblatt gibt, liegt u.a. auch an der Verkomplizierung der Veröffentlichungsprozedur wie oben beschrieben.
Aktueller Stand
Vielleicht ist es nicht allen Unternehmen bekannt, aber der Vertrag mit dem HAS-Contractor ist zu Beginn des Jahres 2022 ausgelaufen. Die Kommission musste eine neue Ausschreibung starten. In der Zwischenzeit hatten die HAS-Consultants aufgrund der vertragslosen Situation ihre Arbeit eingestellt. Das führte in letzter Konsequenz dazu, dass nur noch hEN im Amtsblatt gelistet wurden, die bereits das HAS-Assessment passiert hatten, und somit ist ein zusätzlicher Stau im Zeitraum 04.02.2022 bis zum 01.08.2022 entstanden. Nun hat die Kommission bekanntgegeben, dass der Vertrag wieder mit dem damaligen HAS-Contractor Ernst & Young unterschrieben wurde. Mit der Bekanntgabe des neuen Vertragspartners für die neue Periode werden die Projekte in folgender Reihenfolge abgearbeitet:
- Dokumente, die zum „Formal Vote (FV)“ eingegangen sind;
- Dokumente, die vor oder während der Stufe „Enquiry (ENQ)“ eingegangen sind;
- Alle weiteren Dokumente auf ad-hoc Basis wie z.B. Dokumente mit dem Status „Working Draft (WD)“ oder Dokumente vor der Veröffentlichung und die noch keinem vorherigen HAS-Assessment unterlagen. Diese HAS-Assessment-Anfragen werden vorab mit dem entsprechenden Projektmanager abgestimmt.
Um die Arbeit zu erleichtern, wird eine den technischen Gremien zugeordnete Dokumentenliste zur Verfügung gestellt, die die anstehenden HAS-Assessments beinhaltet. Diese ist allerdings nicht öffentlich zugänglich, was es den Anwendern nicht gerade leicht macht.
Es wird somit noch einige Zeit dauern, bis dieser Stau aufgearbeitet ist. Es wird allen Normanwendern empfohlen, diesem Umstand Rechnung zu tragen. Dementsprechend sollte in den technischen Unterlagen im Rahmen der Konformitätsbewertung die jeweilige Situation der angewandten Normen beleuchtet werden. Die Konformitätsvermutung geht nur von den harmonisierten Normen aus, die im EU-Amtsblatt veröffentlicht sind. Für alle anderen technischen Spezifikationen muss der Nachweis erbracht werden, wie die grundlegenden Anforderungen der jeweils angewandten Harmonisierungsrechtsvorschrift erfüllt wird.
Insgesamt kann somit die Europäische Normungsstrategie sehr kritisch hinterfragt werden. Wenn es z.B. HAS-Assessments im Bereich Maschinenbau gibt, die zum Teil 18 Monate (!) gedauert haben, dann ist das deutlich zu lange. Zudem gab es immer wieder unterschiedliche Interpretationen zwischen den jeweiligen Normungsgremien, dem zuständigen HAS-Consultant und den EU-Kommissionsvertretern bzw. dem Legal Service. In diesem Zusammenhang sollte dringend ein Feedback-Mechanismus für den Schlussentwurf (inhaltlichen Modifikationen führen zu einer positiven HAS-Bewertung und Akzeptanz durch die Kommission) eingeführt werden, sonst sind immer wieder negative HAS-Assessments die Folge und es werden unnötige Schleifen gedreht.
Kontaktieren Sie uns gern bei konkreten Fragen oder Unklarheiten!
Auszug aus der neuen Publikation:
Loerzer, Michael: Product Compliance Management – Praxishandbuch für die Ermittlung, Umsetzung und Einhaltung von Produktkonformität, 1. Auflage 2022, Austrian Standards.