Zwei Fragen vorneweg…
1. Fragen Sie sich auch häufiger warum es bestimmte technische Normen nicht in das Amtsblatt der EU schaffen und Sie dadurch nicht von der Konformitätsvermutung Gebrauch machen können? Es wird viel über die Gründe in Fachkreisen spekuliert, aber gezeigt wird einem das Ergebnis des HAS-Assessments nie.
2. Kennen Sie Ihre Rechte auf den Zugang zu Dokumenten des Europäischen Parlaments, des Rates und der Kommission? Dieses Recht ist u.a. durch die Verordnung (EG) Nr. 1049/2001 gegeben.
Für den Marktzugang in die Europäische Union sollen präferiert harmonisierte Europäische Normen (hEN) erstellt werden, welche durch ihre Nennung im Amtsblatt ihre Konformitätsvermutungswirkung entfalten. Die Anwendung einer hEN lässt die Erfüllung einer grundlegenden Anforderung einer Richtlinie (oder Verordnung) vermuten.
Wir haben viele technische Normen zur Hand, welche auf Gesuch der EU-Kommission (standardization request) von den europäischen Normungsorganisationen (CEN, CENELEC, ETSI) erstellt und veröffentlicht wurden. Leider schaffen es diese Normen selten durch das HAS-Assessment und somit nicht ins Amtsblatt.
Den normenanwendenden Personen wäre sehr geholfen, wenn die Ergebnisse des HAS-Assessments öffentlich einzusehen wären. Denn vielleicht ist die Norm durchaus technisch in der Lage die grundlegenden Anforderungen der EU-Vorschriften zu adressieren, scheitert jedoch an Formalitäten.
Während unserer regelmäßigen Diskussionen mit Marktüberwachungsbehörden, stellen wir durchaus eine - ich nenne es mal - „Amtsblatthörigkeit“ fest. Wir empfehlen meistens die Anwendung der neuesten technischen Norm, weil diese am ehesten den Stand der Technik widerspiegelt. Ärgerlich ist es dann, wenn der Vollzug die Konformität mit der älteren, amtsblattgelisteten Version verlangt.
Wir haben die Einsicht beantragt!
Mit den einleitenden Worten „auf Basis der Verordnungen 1049/2001 sowie 1367/2006 bitte ich Sie um Übersendung von Dokumenten, die folgende Informationen enthalten“ wurde unserem Antrag auf Einsichtnahme der ausgefüllten Bewertungsbögen der HAS-Consultants durch die Europäische Kommission - Binnenmarkt, Industrie, Unternehmertum und KMU (GROW-E3@ec.europa.eu) stattgegeben.
Die ausgefüllten Bewertungsbögen für die EMV-Richtlinie und die Niederspannungsrichtlinie der fallbezogenen, technischen Norm prEN IEC 62752:2023 können bei FragDenStaat öffentlich eingesehen werden.
Anmerkung: FragDenStaat ist eine nützliche Plattform für die Kommunikation mit Behörden. Wir haben uns dafür entschieden die Kommunikation mit der EU-Kommission öffentlich zu machen und haben zudem von den Textvorlagen und den vorgegebenen Kontaktdaten profitiert. Die Anfrage könnte genauso gut direkt bei der Generaldirektion Binnenmarkt, Industrie, Unternehmertum und KMU erfolgen.
Der Bewertungsbogen führt die bewertende Person durch 26 Fragen. Hier wird beispielsweise gefragt, ob die Terminologie und der Anwendungsbereich der Norm mit der betroffenen EU-Vorschrift einhergeht (siehe 1.2.1 und 1.2.3). Es wird auch gefragt, ob die technische Norm unpassenderweise Anforderungen aus der EU-Vorschrift wiederholt (1.2.16).
Der HAS-Bewertungsbogen zur Niederspannungsrichtlinie fällt in 7 von 26 Punkten negativ aus. Beispielsweise darf die Formulierung ‘unless otherwise agreed between manufacturer and user’ wegen des Eindeutigkeitsgebots nicht in der Norm stehen. Die angestrebte Leistung (z.B. Sicherheit) gilt es durch das Produktdesign und die Produkteigenschaften zu gewährleisten (siehe 1.2.18). Mit dem Bewusstsein über diese konkrete Schwäche, kann man bei der Anwendung der Norm Abhilfe schaffen.
Schwieriger wird es dem verfehlten Reproduzierbarkeitsgebot entgegenzuwirken. In 1.2.17 wird kritisiert, dass dem Hersteller in der Norm verschiedene Anforderungen zur Auswahl gestellt werden.
Vielleicht ist selbst den mitarbeitenden Personen der technischen Komitees, welche die Normen erstellen, die Bewertungspraxis nicht bekannt. Wie auch, wenn man die ausgefüllten Bögen erst beantragen muss. Wir haben die Einsicht am 14. Februar 2025 beantragt. Die Frist ist seitens der EU-Kommission vier Mal verstrichen. Wir haben zwei Mal gemahnt. Mit Erfolg! Am 6. Mai 2025 wurden uns die erhofften Dokumente ausgehändigt.
Als nächstes fragen wir mal nach, ob wir auch die vorliegende Risikobewertung (1.2.20) einsehen dürfen. Dieses Dokument könnte dem Hersteller von großem Nutzen sein, um der Pflicht einer „geeignete Risikoanalyse und -bewertung“ nachzukommen.
Wir halten Sie auf dem Laufenden und stehen Ihnen für weitere Details gern zur Verfügung.
Autor
Benjamin Kerger (B. Eng.)
Product Compliance Consultant
BEGRIFFE UND ABKÜRZUNGEN
Ein HAS-Assessment (Harmonized Standards Assessment) ist ein Bewertungsverfahren für harmonisierte Normen (hEN), das von der Europäischen Kommission durchgeführt wird. Ziel ist es festzustellen, ob eine Norm die Voraussetzungen für die Veröffentlichung im Amtsblatt der Europäischen Union (OJEU) erfüllt. Dabei überprüfen sogenannte HAS-Consultants, ob die Norm mit dem zugrunde liegenden Normungsauftrag (Mandat) übereinstimmt.
Die Verordnung (EG) Nr. 1049/2001 des Europäischen Parlaments und des Rates regelt den Zugang der Öffentlichkeit zu Dokumenten der EU-Institutionen. Sie definiert die Bedingungen, unter denen Bürgerinnen und Bürger der Europäischen Union Einsicht in Unterlagen des Europäischen Parlaments, des Rates und der Kommission nehmen können.
Die Verordnung (EG) Nr. 1367/2006 setzt das sogenannte Übereinkommen von Århus* innerhalb der Organe und Einrichtungen der Europäischen Gemeinschaft (heute Europäische Union) um. Ziel dieser Verordnung ist es, sicherzustellen, dass Bürgerinnen und Bürger sowie Organisationen Zugang zu Umweltinformationen erhalten, an umweltbezogenen Entscheidungsverfahren beteiligt werden und bei Umweltfragen auch rechtlichen Zugang zu Gerichten haben.
*Das Übereinkommen von Århus ist ein völkerrechtlicher Vertrag, der 1998 in der dänischen Stadt Århus unterzeichnet wurde. Es stärkt die Rechte der Öffentlichkeit in Umweltangelegenheiten und basiert auf drei Säulen: Zugang zu Umweltinformationen, Beteiligung der Öffentlichkeit an Entscheidungsprozessen und Zugang zu Gerichten bei Umweltfragen. Die Europäische Union und ihre Mitgliedstaaten haben sich verpflichtet, diese Prinzipien umzusetzen.